Die 95 Thesen über die Kraft der Ablässe
vorgetragen am Reformationstag 2017 in der Melanchthon-Gemeinde Hannover von Dr. Axel Ehlers
Heute vor 500 Jahren hat Martin Luther seine Thesen über die Kraft der Ablässe an verschiedene Empfänger verschickt und unter anderem an der Tür der Wittenberger Schlosskirche aushängen lassen. Denn in der Schlosskirche gab es immer an Allerheiligen einen großen Ablass zu gewinnen, sodass mit zahlreichen Besuchern zu rechnen war, von denen sicher auch ein paar Latein konnten.
Das war der Ausgangspunkt für die Reformation. Die Thesen sind heute vor allem ein bildmächtiges Symbol, das immer wieder die Vorstellung von donnernden Hammerschlägen hervorruft, mit denen ein vergeistigter Intellektueller die Tür der herrschaftlichen Schlosskirche ramponiert haben soll.
Was tatsächlich in den Thesen steht, interessiert heute meist nicht so sehr. Das meiste davon verstehen wir auch gar nicht ohne Weiteres.
Bevor wir gleich die seltene Gelegenheit haben, den Text der Thesen einmal vollständig zu hören, möchte ich Ihnen daher kurz die gedanklichen Voraussetzungen dieses Textes – Buße und Ablass – und die wesentlichen Inhalte vorstellen.
Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich dabei auch auf Dinge zu sprechen komme, die Ihnen völlig geläufig sind, und wenn ich manches nicht erwähne, das in den Thesen vorkommt oder oft mit den Thesen assoziiert wird. Zunächst die Voraussetzungen. Sie reichen sehr weit zurück, nämlich bis zur Entstehung des Christentums.
Die wichtigste: Der Mensch ist ein Sünder, wahlweise eine Sünderin. Er muss sich vom Verkehrten abwenden. „Tut Buße“, hat ja schon Jesus gepredigt. In der Taufe stirbt der alte Mensch und lebt fortan sündlos in der Nachfolge Christi. Die Erfahrung lehrte je doch schon in der alten Kirche: auch der Getaufte geht fehl und handelt wie ein Sünder. Diese Verfehlung muss bestraft werden, um gesühnt zu werden und den Zustand der Gerechtigkeit, den die Taufe bewirkt hatte, wiederherzustellen. Jede Sünde erfordert daher gerechterweise eine Strafe. Aber welche Genugtuung ist für welche Verfehlung angemessen?
In der spätantiken und frühmittelalterlichen Kirche entwickelte sich als Antwort auf diese Frage ein geregeltes Bußverfahren.
Die Regeln waren anfangs so hart, dass mancher seine öffentliche Buße auf das Lebensende verschob, denn es gab zunächst nur diese eine Chance, die Taufgnade wiederzuerlangen. Erst danach erhielt man die priesterliche Absolution, die Lossprechung von der Schuld.
Erleichterung brachte die aus dem Klosterleben stammende regelmäßige Beichte vor einem Priester. Diese systematische Selbstreflexion machte Buße wiederholbar und alltagstauglich. Sie band die Absolution an die Beichte, erst danach wurde die Bußstrafe abgeleistet. In Bußbüchern konnte der Priester nachlesen, welche Strafe zu den gebeichteten Vergehen passte. Dieses Verfahren folgte festgelegten Richtlinien, den kirchlichen Kanones. Darum sprach man auch von kanonischen Bußbestimmungen.
Wer wieder in den Stand der Gnade gelangen wollte, brauchte dreierlei: wahre Reue, aufrichtige Beichte und ein Werk der Genugtuung, die Satisfaktion.
Das sind die drei Teile der sakramentalen Buße, die seit dem 13. Jahrhundert für jeden Christen zur verbindlichen jährlichen Pflicht wurde. Die Satisfaktion musste in diesem Leben oder, wenn das nicht gelang, durch Strafen im Jenseits, im sogenannten Fegefeuer, geleistet werden.
Das Fegefeuer ist zwar nicht schön, aber doch immerhin eine zweite Chance, wenn man seine Bußleistungen zu Lebzeiten nicht vollständig erbringen konnte. Und wer kann das schon?
Um die Bußlast zu mildern, kam die Kirche den Gläubigen seit dem 11. Jahrhundert mit der seelsorgerischen Erfindung des Ablasses entgegen. Der Ablass lässt ursprünglich Bußstrafen nach, die der Beichtvater in der Beichte dem Gläubigen auferlegt hat. An stelle eines strengen vierzigtägigen Fastens kann ich zum Beispiel eine Spende zum Bau der neuen Pfarrkirche geben. Oder ich bete mehrmals am Tag für den Bischof; oder ich
begleite regelmäßig den Pfarrer, wenn der das Abendmahl zu einem Kranken bringt. Das zählt dann so viel wie vierzig Tage Fasten, geht aber viel schneller. Je mehr strenge Fastenzeiten mir in der Beichte aufgebrummt wurden, umso hilfreicher wird der Ablass.
Der Ablass ist also im Kern ein Ausdruck der Barmherzigkeit gegenüber dem Sünder.
Aber gilt er auch für die noch im Jenseits ab zuleistenden Strafen, wenn ich unversehens sterbe? Ja, sagt die mittelalterliche Kirche, kraft der Schlüsselgewalt gilt der Ablass auch für die jenseitigen Sündenstrafen, er verkürzt also das Fegefeuer. Dafür hätten Christus und die Heiligen durch ihre besondere Frömmigkeit und Sündlosigkeit ersatzweise Genugtuung geleistet. So wird der Erlass heilsökonomisch aus dem sogenannten „Schatz der überschüssigen Verdienste Chris ti und seiner Heiligen“ refinanziert.
Weil man aber nicht so genau wissen kann, was Gottes Gerechtigkeit über die kirchlichen Bußstrafen hinaus als Genugtuung fordert, erscheint es in jedem Fall klug, möglichst viel Ablass zu erwerben, um möglichst schnell aus dem Fegefeuer zu kommen.
Oder aber einen Ablass, der alle Strafen auf einmal abnimmt. Einen solchen vollkommenen Ablass, auch Plenarablass genannt, boten die Kreuzzüge. Wer hier sein Leben wagte, konnte ziemlich sicher sein, nach seinem Tod das Fegefeuer auslassen zu dürfen.
Voraus gesetzt, dass er bald nach dem Gewinn des Ablasses starb. Für künftige Sünden galt der nämlich nicht. Da konnte dann – gerade bei Rittern – wieder allerhand zusammenkommen.
Ein Kreuzzug war nicht ohne und nicht jeder konnte ihn leisten, Frauen zum Beispiel gingen leer aus. Das ist natürlich nicht gerecht, und darum gab es den Plenarblass später auch auf andere Weise, zum Beispiel für die Unterstützung eines Kreuzzuges oder, seit dem 14. Jahrhundert, für eine Pilgerfahrt nach Rom in bestimmten Jahren, den sogenannten Jubiläumsablass. Den gab es schließlich auch außerhalb Roms zu gewinnen. Während des abendländischen Schismas, als es einen Papst in Rom und einen in Avignon gab, ging Papst Bonifaz IX. zudem dazu über, vollkommene Ablässe bekannter Orte auch an andere Kirchen zu vergeben.
Berühmt war zum Beispiel der vollkommene Ablass der Portiuncula-Kapelle zu Assisi, den Papst Honorius III. dem heiligen Franziskus mündlich gewährt haben sollte. Genau den gab es zu Luthers Zeiten am 1. November, dem Fest Allerheiligen, auch an der Wittenberger Schlosskirche zu gewinnen.
Im 15. Jahrhundert gab es vollkommene Ablässe für die Unterstützung von Kriegen, zum Beispiel gegen die Osmanen, für den Bau einiger Kirchen oder auch für die Unter stützung geistlicher Gemeinschaften wie dem Heiliggeistorden, der in ganz Europa Hospitäler betrieb. Diese Ablässe wurden europaweit in großen Kampagnen gegen sozial gestaffelte Geldzahlung angeboten.
Man konnte dabei vollkommene Ablässe bekommen, die man „in der Todestunde“ durch den Beichtiger zugesprochen bekam. Dafür musste man nur das Zertifikat darüber, den Beichtbrief, vorweisen. Und wenn man dann wunderbarerweise doch nicht starb?
Dann konnte man manche Ablässe so oft nutzen, wie der Tod nahe zu sein schien.
Ein Immer dannwennAblass also. Solche überaus praktischen Ablässe wurden oft zu Beginn einer neuen Ablasskampagne außer Kraft gesetzt. Ärgerlich.
In einem modernen Bild: Die Rente ist sicher, denkt man, und dann gelten die bereits gezahlten Beiträge plötzlich nichts mehr.
Nun fehlte nur noch eins: Auch die bereits Gestorbenen sollten aus dem Fegefeuer erlöst werden. Wäre es nicht gut, wenn man auch für sie einen Ablass erwerben könnte, stellvertretend sozusagen, wie ja auch Christus stellvertretend für uns gelitten hat?
Auch das war seit 1476 möglich, als erstmals ein Ablass mit päpstlicher Genehmigung diese Möglichkeit bot. Und da man schlecht stellvertretend Reue empfinden kann, war zum Erwerb eines solchen Ablasses auch keine persönliche Reue mehr erforderlich.
Schon einige Jahre vor den Thesen Luthers zeigte sich, dass viele Menschen das Ablassangebot übertrieben und unglaubwürdig fanden. Manche Landesherren verweigerten gelegentlich die Zulassung der Ablasswerbung. Luthers Landesherr Friedrich III. von Sachsen zum Beispiel lehnte die Zulassung des Petersablasses in seinen Landen ab; und die Einnahmen aus den Kampagnen gingen allgemein zurück.
Die Ablasskampagne für den Bau des Petersdoms war bekanntermaßen der äußere Anlass für Luthers Thesen. Der Text fasste manches von dem in Worte, was schon länger Kneipengespräch war, insbesondere in den Thesen 8190.
Damit kommen wir zu den Thesen selbst.
Der Mönch und Bibelprofessor Martin Luder, wie er hieß und bis Oktober 1517 genannt wurde, hatte spätestens seit seiner Vorlesung über die Psalmen 1514 grundsätzliche Schwierigkeiten mit dem Ablass. Er stand für ihn in direktem Widerspruch zum wahren christlichen Leben. So wie Christus dem Leiden nicht ausgewichen war, sollte auch der Christ seinem Herrn leidend nachfolgen. Das sündhafte Ich musste lebenslang bekämpft werden.
Die Strafe, die dabei half, zu vermeiden, zum Beispiel mithilfe eines Ablasses, war bequem und nur etwas für faule Christen.
Wahrhafte Reue zeigte sich für Luther hingegen in williger Annahme der Strafe.
Ohne wahrhafte Reue galt aber auch ein Ablass nichts. Wozu also brauchte man ihn dann, wenn nicht, um sich selbst in scheinbarer Sicherheit zu wiegen?
Der Ablass war für Luther also vor allem eine religiöse Selbsttäuschung und als solche war er gefährlich für das Seelenheil.
Das kommt in den Thesen deutlich zum Ausdruck: Wer Ablass gegen eine Geldspende erwirbt, handelt selbstsüchtig, stattdessen wäre es besser, den Armen und Bedürftigen unmittelbar zu helfen.
Tätige Nächstenliebe macht den Menschen besser, ein Rabatt auf die Bußstrafen hingegen gerade nicht. Diesen Gedanken hatten übrigens auch schon andere mittelalterliche Theologen gehabt.
Die Art und Weise der Veröffentlichung der 95 Thesen folgte dem Beispiel seines Wittenberger Kollegen Andreas Bodenstein, ge nannt Karlstadt, der im April 1517 am Vortag der großen Reliquienausstellung in der Schlosskirche, bei der es auch zahlreiche Ablässe zu gewinnen gab, eine noch längere Thesenreihe über die scholastische Theologie veröffentlicht und ausgehängt hatte. Beide Thesenreihen riefen zur Diskussion auf.
Die Thesen sind also Streitsätze, die Zustimmung oder Ablehnung herausfordern sollten, um die Sache zu klären, um die es ging.
Im Falle Luthers: Was sind eigentlich Ablässe, wozu sind sie gut, wie genau wirken sie, welche Rolle spielen sie für die Buße, können sie auch für Tote gelten?
Luther konnte nicht absehen, welche Wirkung die Thesen haben würden. Mit ihrer Veröffentlichung verband sich aber sehr wohl das Gefühl, etwas Besonderes zu tun.
Darauf deutet seine Namensänderung hin: ausgerechnet seit dem 31. Oktober 1517 er setzte er seinen Familiennamen Luder durch eine neue Namensform: Lutherus, nach humanistischer Manier abgeleitet aus dem griechischen Eleutherios, der Freie oder der Befreite.
In den Thesen warf Luther in aller Freiheit weitere höchst heikle Fragen auf: Was hat es mit dem Schatz der Verdienste Christi und seiner Heiligen auf sich, der die Wirksamkeit der Ablässe sogar für die Verstorbenen decken sollte?
Ist das eine Art Bankkonto, von dem nur der Papst nach seinem Gutdünken etwas abheben und den Gläubigen zuteilen darf? Kann der Papst in Gottes jenseitiges Gericht wirksam eingreifen und so durch von ihm verliehene Ablässe Verstorbene aus dem Fegefeuer befreien? Oder kann er, wie jeder Christ, nur mit Fürbitten vor Gott treten?
Diese Fragen nach dem sogenannten Gnadenschatz der Kirche und der Vollmacht des Papstes berührten Grundfesten der spätmittelalterlichen Kirche. Sie machten die Thesen besonders brisant.
Man hört das nicht gleich, weil Luther das, was er am Ablass kritisiert, nicht dem Papst anlastet, sondern behauptet, dieser müsse eigentlich ganz seiner Meinung sein. Die Geschichte wäre anders verlaufen, wenn der Papst hätte halten können, was Luther sich von ihm versprach.
Hören wir also, was Luther 1517 zur Diskussion stellte.
Martin Luther: Einleitung zu den 95 Thesen
Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen, soll in Wittenberg unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Vaters Martin Luther, Magisters der freien Künste und der heiligen Theologie sowie deren ordentlicher Professor daselbst, über die folgenden Sätze disputiert werden.
Deshalb bittet er die, die nicht anwesend sein und mündlich mit uns debattieren können, dieses in Abwesenheit schriftlich zu tun. Im Namen unseres Herrn Jesu Christi, Amen.
Kleine Literaturauswahl:
Bagchi, David, Luther’s Ninetyfive Theses and the Contemporary Criticism of Indulgences, in: Promissory Notes on the Treasury of Merits. In dulgences in Late Medieval Europe, hg. v. Robert N. Swanson (Brill’s Companions to the Christian Tradition 5), Leiden/Boston 2006, S. 331–355.
Kaufmann, Thomas, Geschichte der Reformation, Frankfurt am Main/Leipzig 2009, S. 182–225, 732–737.
Kaufmann, Thomas, Luthers 95 Thesen in ihrem historischen Zusammenhang, in: Gnade – sonst nichts?
Protestantische Positionen, hg. v. Rainer Rausch, (Dokumentationen der Luther-Akademie, Tagungsband 8), Hannover 2014, S. 55–82; dass. nahezu identisch auch in: Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation.
Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 67), Tübingen 2012, S. 166–184.
Kolb, Robert, Luthers Appell an Albrecht von Mainz – Sein Brief vom 31. Oktober 1517, in: Meilensteine der Reformation. Schlüsseldoku mente der frühen Wirksamkeit Martin Luthers, hg .v. Irene Dingel u. Henning P. Jürgens, Güters loh 2014, S. 80–88.
Slenczka, Notger, Die 95 Thesen, in: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 88, Heft 3 (2017), S. 152–162.
Thönissen, Wolfgang, Luthers 95 Thesen gegen den Ablass (1517) – Ihre Bedeutung für die Durchsetzung und Wirkung der Reformation, in: Meilensteine der Reformation. Schlüsseldoku mente der frühen Wirksamkeit Martin Luthers, hg .v. Irene Dingel u. Henning P. Jürgens, Güters loh 2014, S. 89–99.
Treu, Martin, Luthers Thesenanschlag. Viel Lärm um Nichts?, in: Martin Luther. Aufbruch in eine neue Welt. Essays, hg. v. Harald Meller u.a., Dres den 2016, S. 92–97.
DR. AXEL EHLERS